70. Jahrestag der Befreiung – Verantwortung für ein weltoffenes Berlin, das Flüchtlingen hilft. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus

Udo Wolf

Das Erinnern historischer Fakten ist wichtig, denn es geht um das Lernen aus der Vergangenheit. So, wie wir hier sitzen, haben wir eine historische Verantwortung, und das ist keine Gedenkredenfloskel. Diese Verantwortung ist konkret. Sie bedeutet, dass überall da, wo Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und rechtsextreme, menschenfeindliche Ideologien gepredigt werden, Demokratinnen und Demokraten aufstehen müssen.

aus dem Wortprotokoll

64. Sitzung
Aktuelle Stunde

Ich rufe nun auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung
des Abgeordnetenhauses von Berlin

70. Jahrestag der Befreiung – Verantwortung für ein weltoffenes Berlin, das Flüchtlingen hilft. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“

(auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen)

in Verbindung mit

lfd. Nr. 5:

8. Mai 1945 – Tag der Befreiung – Gesetz über die Änderung des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage

Antrag der Fraktion Die Linke und der Piratenfraktion
Drucksache 17/2243

Erste Lesung

Präsident Ralf Wieland:

– Für die Fraktion der Linken hat jetzt Herr Udo Wolf das Wort.

Udo Wolf (LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Michael Müller! Sie haben hier am 2. Mai zur Befreiung Berlins geredet. Wir haben Zeitzeugen gehört, die den Holocaust überlebt, den Krieg durchlitten und die Befreiung vom Faschismus erlebt haben. Das war sehr bewegend, und ich bin froh, das Sie als Regierender Bürgermeister dafür die passenden Worte gefunden und auch den richtigen Ton getroffen haben.

[Allgemeiner Beifall]

Ich sage das, weil es in diesen Tagen vielleicht nicht der richtige Ton ist, so ganz besonders stolz auf die Leistungen des Nachkriegsdeutschlands zu sein, sondern vielmehr aus der Perspektive der Opfer und des Leids, das die Nazi-Barbarei angerichtet hat, darüber zu reden. Das gelingt in diesen Tagen, in denen viel über das Kriegsende vor 70 Jahren geredet wird, nicht jedem deutschen Politiker. Ich möchte mich deshalb bei Ihnen, Herr Regierender Bürgermeister, für Ihre Rede noch einmal ganz persönlich ganz herzlich bedanken.

[Allgemeiner Beifall]

Denn, lieber Michael Müller, Sie haben es geschafft, der Opfer der Nazi-Barbarei und des Krieges zu gedenken, den Befreiern zu danken, einen Bogen in die Gegenwart zu schlagen und unsere historische Verantwortung ganz aktuell zu belegen. Sie haben den Alliierten gedankt und dabei die besondere Rolle der Roten Armee und der polnischen Kämpferinnen und Kämpfer betont.

Sie, Herr Präsident, haben den ersten Stadtkommandanten und Berliner Ehrenbürger Nikolai Bersarin gewürdigt. Das alles kommt anderen in der deutschen Politik nur sehr schwer über die Lippen. Aber es ist nun einmal eine historische Tatsache, dass Berlin von der Roten Armee befreit wurde und dass die Nazi-Armeen in keinem anderen Land so gewütet haben wie in Polen und der Sowjetunion. Unabhängig davon, wie man zum Stalinismus, zur heutigen Regierung in Russland oder anderen ehemaligen GUS-Staaten steht: Den Männern und Frauen, die ihr Leben eingesetzt haben, um dem deutschen Faschismus das Handwerk zu legen, gebührt unser Dank und unser ehrendes Anerkennen.

[Allgemeiner Beifall]

Das Erinnern historischer Fakten ist wichtig, denn es geht um das Lernen aus der Vergangenheit. So, wie wir hier sitzen, haben wir eine historische Verantwortung, und das ist keine Gedenkredenfloskel. Diese Verantwortung ist konkret. Sie bedeutet, dass überall da, wo Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und rechtsextreme, menschenfeindliche Ideologien gepredigt werden, Demokratinnen und Demokraten aufstehen müssen.

[Allgemeiner Beifall]

Wir müssen mit dem Erinnern an das grauenhafteste Kapitel deutscher Geschichte Aufklärung betreiben. Wir müssen uns NPD-Kameradschaften und Pegida, Bärgida – und wie der ganze Spuk sich schimpft – immer wieder entgegenstellen – jeder und jede, so gut er oder sie kann.

[Allgemeiner Beifall]

Das ist oft anstrengend, aber es muss getan werden – am Stammtisch, wenn rassistischer Unsinn über Flüchtlinge gesprochen wird, im persönlichen Umfeld, wenn geschichtsvergessene Dummheiten erzählt werden, auf Demonstrationen, wenn Nazis versuchen zu provozieren und einzuschüchtern. Und nebenbei: Es wäre schön, wenn bei den jährlichen Kranzniederlegungen am 8. und 9. Mai wieder mehr Politikerinnen und Politiker teilnähmen, denn der Kreis derjenigen, die in den letzten Jahren z. B. am polnischen Ehrenmal oder an den sowjetischen Ehrenmalen im Treptower Park oder an der Straße des 17. Juni des Tages der Befreiung gedachten, war sehr überschaubar. Ich finde das beschämend. Vielleicht hilft ja der Hinweis von Götz Aly, dass man an diesen Tagen an diesen Orten der Opfer und der Befreier gedenkt und nicht der aktuellen Regierung.

Wer heute über das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Faschismus spricht, muss auch über Flucht und Asyl in diesen Tagen reden. Das haben Sie getan, Herr Regierender Bürgermeister. Man muss aber auch darüber reden, dass derzeit die UN die Bundesrepublik auf Rassismus und auch staatlichen Rassismus untersucht und besorgniserregende Befunde hat. Man muss darüber reden, weshalb so etwas wie der NSU-Skandal in Deutschland passieren konnte und wie es dazu kommen konnte, dass sich Mitarbeiter des bundesdeutschen Staates im Umgang mit Rechtsextremisten in Komplizenschaft begeben haben. Ja, Komplizenschaft! Während ein Teil der Sicherheitsbehörden über V-Leute am Aufbau von militanten und terroristischen Strukturen im rechtsextremen Bereich mitgewirkt hat, hat ein anderer Teil der Sicherheitsbehörden bei den Mordtaten einen rechtsextremen Hintergrund schnell ausgeschlossen und die Familien der Opfer unter Verdacht genommen. Das sind bittere Fakten, die nur von Leuten bestritten werden können, die die Augen ganz fest verschließen. Dass sich jetzt nach dem Ende des Bundestagsuntersuchungsausschusses schon wieder eine Haltung breitmacht, die da sagt: So, ist ja alles aufgeklärt, das Thema wird abgehakt –, das finde ich erschütternd.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei der SPD und
den GRÜNEN]

Gleichzeitig radikalisiert sich wieder die rechtsextreme Szene in Berlin. Sie sagen, dass die V-Leute unverzichtbar sind, um die Szene wirksam zu bekämpfen, aber Sie kriegen in Berlin die Nazis schlicht nicht in den Griff. Die Nazis bedrohen Flüchtlinge, sie bedrohen Unterstützerinnen und Unterstützer von Flüchtlingen, sie verüben Anschläge, die bedrohen Politikerinnen und Politiker, sie demonstrieren vor der Haustür der Bundestagsvizepräsidentin. Das alles ist unerträglich und nicht hinnehmbar.

[Allgemeiner Beifall]

Lieber Herr Regierender Bürgermeister! Ich weiß, dass Sie das persönlich auch so sehen. Aber Sie müssen sich fragen lassen, was Ihr Innensenator tut. Was tut er, damit rechtsextreme Straftaten und Bedrohungen schnellstmöglich ermittelt werden und dass die Opfer Schutz bekommen? Und last, not least: Tut er wirklich alles, damit das erneute NPD-Verbotsverfahren nicht gefährdet wird? – Es wird Sie sicher nicht beruhigen, wenn ich Ihnen sage, dass der Innensenator bisher nicht den zweifelsfreien Nachweis erbracht hat, dass in den Führungsstrukturen der NPD keine V-Leute mehr unterwegs sind, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Wir wüssten übrigens auch ganz gern, was der Innensenator vorhat, um Provokationen von Nazis am Kapitulationsmuseum in Karlshorst oder jetzt am 9. Mai vor dem Reichstag zu verhindern.

Der deutsche Faschismus hat nicht wenige Flüchtlinge und Migranten produziert, und großartige Berliner wie Ernst Reuter, Willy Brandt, Bertolt Brecht oder Marlene Dietrich – diese nicht als Flüchtling, aber als Migrantin – waren dabei. Marlene Dietrich würde vielleicht heutzutage als Fluchthelferin gelten, denn sie hat Flüchtlinge unterstützt. Das Asylrecht hielt als Lehre aus dem Faschismus Einzug ins Grundgesetz, aber Anfang der 90er-Jahre hat der Bundestag quasi als Kapitulation vor dem Stammtisch das Asylrecht auf einen kümmerlichen Rest reduziert. Das zeigt sich jetzt ganz deutlich, da wieder mehr Menschen auf der Flucht sind. Unser neuer Ehrenbürger Michael Blumenthal, selbst als Kind geflohen – Sie, lieber Michael Müller, haben ihn dankenswerterweise mehrfach zitiert –, hat die Flüchtlinge als Schatz für die Gesellschaft bezeichnet, und er hat gesagt, dass Berlin, um diesen Schatz zu heben, auch mehr Geld in die Hand nehmen müsste. Recht hat der Mann.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Herr Innensenator! Berlins neuer Ehrenbürger hat nicht gesagt: Ignoriert die Empfehlungen der Härtefallkommission! – so, wie Sie es bei zwei Dritteln der Fälle tun und gegen den humanitären Wunsch der Kommission abschieben. Wer vor Krieg, Verfolgung und Tod auf der Flucht ist, dem muss geholfen werden. Punkt!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD, den GRÜNEN und
den PIRATEN –
Beifall von Andreas Gram (CDU)]

Wer es bis hierher schafft, dem muss ein Weg in ein normales Leben eröffnet werden. Alles andere ist inhuman und geschichtsvergessen. Leider ist der demokratische Konsens, den es bei den Vätern des Grundgesetzes zum Thema Flüchtlinge gab, löchrig geworden. Das ist ein trauriger Befund. Der 8. Mai sollte Anlass sein, auch darüber nachzudenken.

Vor 70 Jahren hat die Rote Armee unsere Stadt vom Faschismus befreit, und 89 Prozent der Deutschen betrachten den 8. Mai heute als Tag der Befreiung und nicht als Niederlage. Das ist schön. Wir sind sehr dankbar, dass Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren mit seiner berühmten Rede diese Erkenntnis im Bewusstsein der bundesdeutschen Gesellschaft befördert hat. Herr Saleh! Das geschah damals nicht ohne Gegenwind. Der Mann musste sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft einiges anhören. Dass es heute einen solchen Konsens gibt – 30 Jahre danach –, ist die Errungenschaft einer ausführlichen Debatte, die der Mann angestoßen hat, und dafür noch mal danke!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN –
Beifall von Andreas Gram (CDU)]

Gleichzeitig ist es mehr als besorgniserregend, dass rechtsextreme Einstellungsmuster, dass Rassismus und Antisemitismus bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Wer es nicht glaubt, lese die aktuellen Studien. Auch deshalb sollte Berlin dem Beispiel von Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen folgen und den 8. Mai als Tag der Befreiung zum Gedenktag machen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Noch haben wir das Glück, Zeitzeugen hören zu können – Überlebende des Holocaust, Menschen, die Widerstand geleistet haben. Es werden leider von Jahr zu Jahr weniger. Frau Pop hat es schon angesprochen. Um die Erinnerung daran, was den Ereignissen vorausging, wachzuhalten, ist es manchmal auch notwendig, Gedenken zu institutionalisieren. Wir haben der Zeitung entnehmen können, dass es jetzt endlich in der Stadt eine politische Mehrheit dafür gibt, den Tag der Befreiung zum Gedenktag zu machen. Nach 70 Jahren – und 30 Jahre nach der Weizsäcker-Rede – wird es endlich Zeit. Liebe CDU! Geben Sie sich einen Ruck, stimmen Sie unserem Antrag zu! – Danke schön!

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei der SPD und
den GRÜNEN]

Präsident Ralf Wieland:

Vielen Dank! –

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