Die ganze Republik ist entsetzt, was Tag für Tag an unglaublichen Neuigkeiten ans Licht kommt

Rede zur Aktuelle Stunde zum Thema: »NSU-Komplex vollständig aufklären«

18. Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses
Aktuelle Stunde zum Thema: »NSU-Komplex vollständig aufklären«

[Aus dem Wortprotokoll]
 

Udo Wolf (LINKE):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hoffe, mir kommt niemand mehr aus der CDU-Fraktion irgendwann einmal mit dem Spruch von der Würde des Parlaments.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Was Sie, Herr Juhnke, hier abgezogen haben, ist das Schmutzigste und Niedrigste, was ich in diesem Haus in den letzten zehn Jahren erlebt habe.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, und den PIRATEN]

Wir diskutieren hier über einen Vorgang politischer Verantwortung. Uns ist angekündigt worden, dass es der Herbst der Entscheidungen ist, aber wenn Herr Henkel am 9. März dieses Jahres eine einzige richtige Entscheidung getroffen hätte, hätte er hier vor 14 Tagen nicht lügen und nicht überrascht tun müssen.

[Beifall bei der LINKEN –
Zuruf von der LINKEN: Genau!]

Und er hätte die Absprachen, die im Januar im Innenausschuss getroffen wurden, nicht brechen müssen. Er hätte sich diesen peinlichen Rosenkrieg der letzten beiden Wochen mit dem Generalbundesanwalt und Frau Koppers sparen können. Wenn Herr Henkel am 9. März dieses Jahres ein echter Innensenator gewesen wäre und politisch gehandelt hätte, dann gäbe es keinen Skandal Henkel. Die Berliner Verstrickungen in den NSU-Skandal wären möglicherweise längst aufgeklärt.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, und den PIRATEN]

Um zum Kern zurückzukehren – Frau Herrmann hat darauf hingewiesen: Es geht bei der schrecklichen NSU-Mordserie um den größten Skandal der deutschen Sicherheitsbehörden in der Nachkriegsgeschichte. – Herr Kleineidam, ich glaube, da sind wir uns auch einig. – Es geht um kollektives Versagen bis hin zu Komplizenschaft, zur nachgewiesenen Komplizenschaft von Geheimdiensten und Ermittlungsbehörden auf Bundes- und Landesebene bei Neonaziterroristen. Der Bundestag richtet einen Untersuchungsausschuss ein. – Herr Juhnke! Ihre Bundeskanzlerin bittet bei den zum Teil selbst verdächtigten und gedemütigten Angehörigen der Opfer um Entschuldigung. – Die ganze Republik ist entsetzt, was Tag für Tag an unglaublichen Neuigkeiten ans Licht kommt.

Da erfährt Herr Henkel am 9. März 2012, dass beim Berliner LKA eine V-Person geführt wurde, die 2002 Hinweise auf den Aufenthalt der rechten Terrorgruppe gegeben haben soll, ein Hinweis, mit dem, wenn ihm nachgegangen worden wäre, vielleicht fünf Morde hätten verhindert werden können. Und was macht Herr Henkel, als er davon erfährt? – Fakt ist: Mehr als ein halbes Jahr trägt Herr Henkel dieses Wissen mit sich herum, und weder wir noch der Untersuchungsausschuss im Bundestag erfahren davon. Wir haben es also Herrn Henkel und nicht der Opposition zu verdanken, dass wir über zwei Skandale sprechen müssen – den Skandal von 2002 und die nachträgliche Behinderung der Aufklärung dieses Skandals im Jahr 2012.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, und den PIRATEN]

Herr Henkel! Wir haben jetzt zwei lange Innenausschusssitzungen hinter uns, und wir haben von Ihnen immer noch keine Antwort auf die Frage, was Sie gemacht haben. Was haben Sie gemacht, als Sie diese Nachricht am 9. März erhalten haben? Wir wissen zumindest, was Sie nicht gemacht haben. Sie haben offensichtlich, obwohl die ganze Republik über den NSU-Skandal entsetzt ist, die Angelegenheit nicht zur Chefsache erklärt, um selbst die Dinge zu klären oder zu regeln. Sie haben offensichtlich nicht alle Beteiligten von Polizei und Verwaltung unmittelbar zu sich gerufen und sich alles, was es zu diesem V-Mann gibt, auf den eigenen Schreibtisch geholt. Sie haben offensichtlich nicht selbst zum Telefon gegriffen und mit dem Generalbundesanwalt den Umgang mit den Akten geklärt. Sie haben nicht den Untersuchungsausschuss im Bundestag über den Fund in Kenntnis gesetzt. Sie haben nicht die Abgeordneten hier im Hause informiert und das, obwohl Sie zugesagt haben, sofort zu berichten, wenn es irgendetwas Neues zum NSU in Berlin gibt.

Herr Henkel! Sie haben jetzt mehrfach erklärt, dass Sie nicht sensibel waren und dass man es hätte anders machen können. Dann erklären Sie uns, das täte Ihnen leid, aber eigentlich hätten Sie doch keine Wahl gehabt, und daran sind doch alle anderen schuld, mal der Generalbundesanwalt, mal die Polizeipräsidentin. Außerdem hätten Sie gar kein Motiv, irgendetwas zu vertuschen, weil Sie 2002 gar nicht im Amt waren.

Mich interessiert nicht, ob Sie sensibel sind, und wenn Sie vertuschen, interessiert es mich nicht im Geringsten, dass Sie das auch noch ohne jedes Motiv machen.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, und den PIRATEN]

Aber mich interessiert, dass Sie am 9. März Ihren Job als politischer Chef der Innenbehörde nicht gemacht haben und dass Sie sich immer noch und von Mal zu Mal mehr vor der politischen Verantwortung drücken. Und hören Sie auf mit diesem jammerigen Rumgeeiere! Stehen Sie zu Ihrem Fehler, und vor allem hören Sie auf, ein Aufklärungshindernis zu sein! Tragen Sie endlich aktiv zur Aufklärung bei!

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, und den PIRATEN]

Und heute, ein halbes Jahr später, präsentieren Sie Ihren persönlichen Sonderermittler – eine Stunde vor dieser Sitzung. Was soll Herr Feuerberg anders machen als der Untersuchungsausschuss im Bundestag oder wir im Innenausschuss? Der Sonderermittler ist der NSU-Untersuchungsausschuss in Deutschen Bundestag, den Sie düpiert haben.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Unbedingter Aufklärungswille bedeutet, alles muss auf den Tisch: Akten, Briefwechsel, Vermerke – alles, was in irgendeiner Weise mit dem V-Mann und dem NSU zu tun hat. Das ist notwendig, um die Vorgänge endlich auswerten zu können – am besten gleich öffentlich.

Aufgeklärt werden muss, ob dem Hinweis auf den NSU durch Thomas S. in keiner Weise nachgegangen wurde. Wenn das stimmt, sollte ein echter Innensenator im LKA, insbesondere beim Staatsschutz, ordentlich aufräumen. Der Fall Thomas S. wirft aber noch weitere Fragen auf, zum Beispiel die ganz grundsätzliche: Was nutzt das V-Leutewesen? – Im besten Fall bekommen die Behörden von V-Leuten Informationen über Vorgänge mit strafrechtlicher Relevanz. Diese Informationen tragen dann zur Verurteilung von Straftätern bei. Allein daran lässt sich nach Lage der Dinge schon zweifeln. Offenbar ist es möglich, dass V-Personen Hinweise auf Straftäter geben, nach denen bundesweit gefahndet wird, und nichts passiert. Aber noch schlimmer: Hunderte von V-Leuten, die bundesweit bei Polizei und Verfassungsschutz geführt werden, haben nicht verhindern können, dass ein Neonaziterrornetzwerk mitsamt vieler Unterstützer über Jahre hinweg Angst und Terror verbreiten konnten und mindestens zehn Menschen ermordet wurden. Möglicherweise haben V-Leute sogar dabei geholfen. Helfen die V-Leute in irgendeiner Weise, den Straßenterror des Neonazis Schmidtke und seiner Kameradschaftsleute gegen Einwanderer, Linke, Jusos und Falken in Schöneweide oder sonst wo zu verhindern oder wenigstens aufzuklären, damit es zu Verhaftungen und Verurteilungen kommt? Hat die Existenz von V-Leuten nicht das erste NPD-Verbotsverfahren verhindert? V-Leutewesen heißt im Klartext, der Staat kooperiert mit Neonazis oder anderen finsteren Gestalten, um an Informationen zu kommen. Im Gegenzug gibt es Geld und Vertrauensschutz. Wie Thomas S. können diese Leute mehrfach vorbestraft sein und sogar während der Zeit als Informant noch wegen Volksverhetzung verurteilt werden. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich finde es grundfalsch, wenn der Staat mit solchen Leuten Geschäfte macht.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Sie kennen die überarbeitete Extremismusklausel, die Projekte und Initiativen gegen Rechtsextremismus unterschreiben sollen. Der polizeiliche Staatsschutz Berlin hätte diese Hürde nicht nehmen können. Er wäre darunter durchgetaucht.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Beenden Sie endlich diesen Geheimschutzwahnsinn! Der Generalbundesanwalt darf nicht die ganze Akte bekommen – Geheimschutz! Die Parlamentarier im Bundestag nicht – Geheimschutz! Dann gibt es endlich Akteneinsicht im Geheimschutzraum. Reden darf man nicht darüber – Geheimschutz! Überall ist die Akte längst bekannt. Alle reden darüber, übrigens auch Herr Juhnke gegenüber dem "Tagesspiegel". Die V-Person gibt sogar Interviews. Nur die Parlamentarier, die die Akten eingesehen haben, dürfen kein Wort darüber verlieren. Das ist doch absurd.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Ermittlungen werden behindert. Selbst militante Neonazis werden als Quellen gedeckt. Der Austausch zwischen Behörden funktioniert nicht. Und was am Schlimmsten ist: Die Stellen, bei denen V-Personen geführt werden, entwickeln ein Eigenleben, das sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.

Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU, solche Fragen stellen Sie sich überhaupt nicht. Sie sagen, ganz ohne V-Leute sei der Staat auf dem rechten Auge blind. Die NSU-Affäre zeigt eins: Noch blinder als mit V-Leuten geht wohl kaum.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Bislang haben Sie gezeigt, dass Sie mit diesem gefährlichen Unsinn weitermachen wollen wie bisher. Trotz seines Versagens rüsten Sie den Verfassungsschutz auf, geben ihm neue Kompetenzen zum Datensammeln, und das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten wird aufgeweicht. Sie hantieren an den Stellschrauben und dann noch an den falschen. Sie machen alles noch schlimmer. Aber schon bald werden Sie sich diese strukturellen Fragen stellen müssen. Die ergeben sich nämlich zwangsläufig aus der entweder unvollständigen oder überaus schlampig geführten Akte, die wir im Geheimschutzraum einsehen durften.

Wir werden Ihnen zur nächsten Innenausschusssitzung einen Fragenkatalog vorlegen. Ich hoffe sehr, dass wir dann auch öffentlich – ohne Strafandrohung wegen Geheimnisverrats – darüber reden dürfen. Machen Sie endlich den Weg für eine wirklich schonungslose Aufklärung frei! Die Öffentlichkeit und nicht zuletzt die Angehörigen der Opfer haben ein Recht darauf. – Wenn Sie das nicht wollen oder können, Herr Henkel, sollte zumindest der Regierende Bürgermeister dafür sorgen, dass es ein Innensenator tut, der es will und kann.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

 

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