Ein Jahr Krise
bei Innensenator Henkel und bei den Sicherheitsbehörden

Rede zur Aktuelle Stunde zum Thema: »NSU-Skandal, Personalnot, undichte Stellen: Hat Innensenator Henkel die Lage im Griff?«

21. Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses
Aktuelle Stunde zum Thema: »NSU-Skandal, Personalnot, undichte Stellen: Hat Innensenator Henkel die Lage im Griff?«

[Aus dem Wortprotokoll]

 
Udo Wolf (LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Schreiber! Es hat noch keine Sachaufklärung stattgefunden, aber Sie ziehen schon eine Konsequenz, dass sich im Grundsatz nichts ändern muss. Das halte ich für einigermaßen inkonsistent.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Ich räume aber auch gerne ein: Keine Behörde arbeitet fehlerfrei. Manche Behörden haben kleinere und manche größere Skandale. An vielen ist die politische Leitung ursächlich gar nicht schuld. Ob aber die Fehler und Skandale aufgearbeitet werden, ob daraus Konsequenzen gezogen werden – am besten auch noch die richtigen, Herr Schreiber! –, daran bemisst sich die Qualität einer politischen Leitung. Das meint politische Verantwortung.

[Beifall bei der LINKEN –
 Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Und gemessen daran, Herr Henkel, ist Ihre Einjahresbilanz als Innensenator niederschmetternd!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wir kennen Herrn Henkel noch aus den Zeiten, da war ihm die Law-and-Order-Rabulistik vom rechten Rand der CDU noch so locker über die Lippen gegangen wie heut-zutage dem Herrn Juhnke.

[Heiterkeit von Christopher Lauer (PIRATEN)] Ich erinnere mich noch gut an die absurde Rede, in der der Kollege Henkel – ernsthaft! – Berlin am 1. Mai mit dem Bürgerkrieg in Beirut verglichen hat.

[Dr. Wolfgang Albers (LINKE): Ha!]

Damals war er noch der Meinung, Deeskalationskonzepte seien die Kapitulation vor Straftätern. Ich weiß noch, wie ich damals gedacht habe: Jetzt dreht er völlig durch.

was haben Sie nicht alles im letzten Wahlkampf erzählt: Es müssen wieder mehr Polizisten auf die Straße. Die Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte ist eine Gefahr für Leib und Leben der Beamten und sollte wie-der abgeschafft werden. – Den Berliner Beamtinnen und Beamten hat Herr Henkel versprochen, mit ihm würde die Besoldung schnellstens an die der anderen Bundesländer angepasst. Und wenn die Stelle des Polizeipräsidenten nicht sofort neu besetzt wird, dann steht die Sicherheit auf dem Spiel.

Und was für einen Frank Henkel haben wir nach der Wahl erlebt? – Fangen wir mal mit dem Positiven an: Er hat die Kennzeichnungspflicht für die Berliner Polizei nicht abgeschafft. Das ist zwar ein Bruch seines Wahlversprechens, aber wir begrüßen das.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Gleichzeitig müssen wir aber feststellen, dass die Kennzeichnungspflicht regelmäßig von ganzen Einsatzgruppen unterlaufen wird. Sie, Herr Henkel, sind verantwortlich für die Einhaltung der Regeln bei der Polizei, aber Sie sehen zu, wie Ihnen die eigenen Dienstkräfte auf der Nase herumtanzen! Ist das Unfähigkeit, oder ist das Absicht, dass Sie das bei der Polizei dulden?

Das schwierige Verfahren zur Auswahl eines neuen Polizeipräsidenten haben Sie von Herrn Körting übernommen, aber das haben Sie ganz schnell zu Ihrem eigenen Problem gemacht. Zuerst wollten Sie das Amt mit Ihrem Parteifreund Klaus Kandt ohne Ausschreibung besetzen. Erst als Sie festgestellt haben, dass das rechtswidrig ist, haben Sie doch ausgeschrieben. Und nach vielen Monaten hin und her ist es wieder Herr Kandt geworden. Na, so ein Zufall!

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Sie haben die Chance vertan, eine Frau zur Chefin der Berliner Polizei zu machen. Das wäre ein wichtiger Schritt für eine moderne Hauptstadtpolizei und gleichzeitig ein Signal für die Gleichstellungspolitik im Land Berlin gewesen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wir können es leider nicht überprüfen – das kann nur die Frauenvertretung oder das Gericht im Rahmen einer Konkurrentenklage –, ob im Verfahren das Landesgleichstellungsgesetz korrekt angewendet wurde.

Aber seien Sie mal ehrlich, Herr Henkel! Frau Koppers führt die Behörde mehr als ein Jahr als Polizeipräsidentin und wird als eindeutig weniger geeignet beurteilt als Herr Kandt? Frau Koppers führt die Behörde ein Jahr lang nicht nur als Polizeipräsidentin, sondern, lässt man die Innenausschusssitzungen der letzten Wochen und Monate Revue passieren, auch noch als Innensenatorin,

[Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

weil der Mann, der den Titel trägt und dafür bezahlt wird, auf die Fragen, die ihm persönlich gestellt werden, nicht antwortet, sondern stattdessen Frau Koppers antworten lässt.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Und diese Frau ist eindeutig weniger geeignet als ihr Konkurrent, hat der Herr Krömer festgestellt.

[Heiterkeit bei der LINKEN]

Herr Henkel! Sie müssen sich nicht wundern, wenn alle anderen Menschen außer denen mit CDU-Parteibuch denken, dass es das geworden ist, was Sie bei Körting immer heftig kritisiert haben: eine reine Parteibuchbesetzung.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

In der Kriminalitätsbekämpfung wollte sich Herr Henkel als konsequenter Mann der Tat präsentieren. Zwei Beispiele – Herr Lux hat es auch schon angesprochen –: Die Rockerrazzia wird aus der Behörde verraten. Schlag ins Wasser! Das zweite Beispiel: V-Leute des LKA überreden Familienvater zu schwerer Straftat, die er sonst nie im Leben begangen hätte. Fette Rüge des Gerichts an die Adresse des LKA! Ihre berühmten 250 zusätzlichen Polizisten – waren mehrfach Thema hier in diesem Haus – sind nicht finanziert. Stattdessen aber die Einsparung von 16 Millionen Euro im Bereich Inneres! Ihre Wähler, Herr Henkel, bekommen statt der zusätzlichen Polizisten nur Personalabbau im Bereich Inneres, und zur Besoldungsanpassung bis 2017, die Sie im Wahlkampf versprochen haben, haben Sie noch nicht mal ein Konzept vorgelegt.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Zu dem Bruch von Wahlversprechen kommt in Ihrer Bilanz, Herr Henkel, noch der verheerende Umgang mit Bürgerrechten dazu. Neuerdings sind Sie ja ein Freund der Deeskalation. Der schikanöse Umgang mit den protestierenden Flüchtlingen am Brandenburger Tor und auch Ihr neuestes Vorhaben, das großflächige Abfilmen von Demonstrationen, sind das Gegenteil von Deeskalation. Werden Sie vielleicht noch lernen! Aber das alles ist bei Ihnen Geschäftigkeit ohne Sinn und Verstand und zeigt: Sie haben als Innensenator keine eigene Linie, keinen Plan. Sie dilettieren einfach so durchs Jahr und durch Ihr Amt.

Nun kommen wir zu den Punkten, die nicht nur schlecht sind, sondern bodenlos. Ihr Umgang, Herr Henkel, mit den Skandalen beim LKA und beim Verfassungsschutz ist eine Frechheit.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
 Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Im März 2012 erfahren Sie davon, dass ein V-Mann beim Berliner LKA Hinweise zu den damals gesuchten NSU-Terroristen gegeben hat. Eigentlich kein Problem Ihrer Amtszeit, durch Ihr Verhalten aber haben Sie diesen Skandal von 2002 zu Ihrem Aufklärungsskandal gemacht. Ab März 2012 haben Sie es – durch mangelnde Sensibilität, sagen Sie –, ich sage, durch Ignoranz, Unfä-higkeit und Verantwortungslosigkeit zu einem Problem Frank Henkel gemacht.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Sie haben die Angehörigen der Opfer und Ihre eigene Kanzlerin düpiert, die öffentlich die absolute Aufklärung des NSU-Skandals zugesichert hat, denn Sie haben die Angelegenheit nicht zur Chefsache gemacht. Sie haben die Dinge nicht selbst in die Hand genommen, um sie aufzuklären. Das wäre die Aufgabe eines Innensenators gewesen, der die Aufklärung des rechten Terrors und des Versagens der Sicherheitsbehörden ernst nimmt.

[Beifall bei der LINKEN –
 Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Und das Schlimmste ist: Sie haben ein halbes Jahr lang weder den Untersuchungsausschuss im Bundestag noch das Abgeordnetenhaus informiert. Stattdessen wurden die Akten zurückgehalten, und im September erklärten Sie hier in der Plenarsitzung, Sie hätten noch nie von diesem Vorgang gehört. Sie sagen, Sie hätten damals die Frage nicht richtig verstanden. Ich sage Ihnen wieder: Sie haben damals das Parlament belogen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Jetzt könnte man natürlich glauben, Sie hätten aus diesem Vorgang gelernt und würden das Abgeordnetenhaus künftig anders behandeln. Aber weit gefehlt! Als Ihnen im Oktober die Schredderaktion beim Verfassungsschutz bekannt wird, vergehen wieder mehrere Wochen, ehe wir davon erfahren.

Da gilt es, den ungeheuerlichen Verdacht aufzuklären, dass das Berliner LKA zehn Jahre lang einen üblen Neonazi als V-Mann geführt hat und Hinweisen auf die rechte Terrorgruppe NSU nicht nachgegangen ist. Da gilt es aufzuklären, warum beim Verfassungsschutz wiederholt ausgerechnet Akten zu rechten Gruppen, die zum Unterstützerkreis des NSU gezählt werden, vernichtet worden sind. Man könnte meinen, die schonungslose Aufklärung dieser Vorgänge hätte oberste Priorität beim Innensenator. Doch dieser Verantwortung, Herr Henkel, stellen Sie sich einfach nicht!

[Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Ist ja jetzt Chefsache bei Wowereit!]

Bei der Aufklärung der Vorgänge schieben Sie Ihren Sonderermittler vor und verstecken sich ansonsten hinter Frau Koppers, Frau Schmid und dem Geheimschutz. Von unseren vielen Fragen, die wir gestellt haben, ist der überwiegende Teil nicht beantwortet worden, weder öffentlich noch geheim.

Ich sage Ihnen noch mal: Schaffen Sie diesen unsäglichen Geheimschutz ab!

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
 Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Es gibt vermutlich keinen Ex-Spitzel in der Neonazi-Szene, der so umfassend enttarnt ist wie Thomas S. Der Geheimschutz kann ihn nicht mehr schützen. Da brau-chen Sie ganz andere Maßnahmen. Der Geheimschutz schützt zurzeit nur das LKA 5, insbesondere den V-Mannführer von damals und den Vorgesetzten, der die Anweisung gegeben hat, nichts von Thomas S. weiterzuleiten. Mit dem Beharren auf dem Geheimschutz verhindern Sie eine öffentliche Debatte über die Missstände in den Behörden und die daraus notwendigen strukturellen Konsequenzen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Statt diese öffentliche Debatte zu ermöglichen, wälzen Sie die politische Verantwortung auf andere ab. Beim LKA-Skandal musste Frau Koppers und beim Verfas-sungsschutz Frau Schmid als Bauernopfer den Kopf für Sie hinhalten. Das ist schäbig!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD! Lieber Klaus Wowereit! Auch wenn Herr Henkel vermutlich nicht freiwillig zurücktreten wird und Ihnen die miserable Gesamtbilanz von Frank Henkel ganz offensichtlich gleichgültig ist, gehe ich trotzdem davon aus, dass Ihnen zumindest das Aufklärungsdesaster des Berliner Anteils am NSU-Skandal nicht gleichgültig ist, nicht sein darf. Sorgen Sie mit Ihrer Richtlinienkompetenz dafür, dass Herr Henkel dem Gerede vom unbedingten Aufklärungswillen Taten folgen lässt, oder besetzen Sie den Posten neu!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

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