Gesetz zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen

,

Nach drei Aktuellen Stunden und einer Regierungserklärung hätten wir erwartet, dass nun endlich etwas geschieht, um die Unterbringung von Geflüchteten transparent, klug und vor allem strategisch planvoll zu organisieren.

aus dem Wortprotokoll

72. Sitzung
Priorität

 

Ich rufe auf

lfd. Nr. 3.4:

Priorität der Fraktion Die Linke

Gesetz zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen

Dringliche Vorlage – zur Beschlussfassung –
Drucksache 17/2583

Erste Lesung

Vizepräsident Andreas Gram:

Vielen Dank, Herr Senator Geisel! – Es war die Priorität der Fraktion Die Linke, und deshalb hat jetzt auch der erste Redner von der Linksfraktion das Wort, und das ist der Kollege Dr. Lederer. – Bitte schön!

 Dr. Klaus Lederer (LINKE):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach drei Aktuellen Stunden und einer Regierungserklärung hätten wir erwartet, dass nun endlich etwas geschieht, um die Unterbringung von Geflüchteten transparent, klug und vor allem strategisch planvoll zu organisieren, dass begonnen wird, die Liste von Immobilien im Bundes- und Landesbesitz abzuarbeiten, Gebäude zu ertüchtigen, dass begonnen wird, die gravierenden Mängel in der Registrierung, Versorgung, medizinischen Behandlung, Betreuung und Unterstützung bei Integration und Partizipation zu beheben, dass das Haus der Statistik, das Amt für Risikobewertung, das Bundesinnenministerium und andere Gebäude jetzt endlich fit gemacht werden und die über 700 Hilfsangebote aus der Bevölkerung ernst genommen werden, auf die das LAGeSo derzeit überhaupt nicht reagiert, dass das Hamburger Modell endlich umgesetzt wird und dass den Ehrenamtlichen, die an der Grenze der Erschöpfung arbeiten, endlich wieder der Rücken gestärkt wird, satt dieses Engagement mit immer wieder neuen hektischen Zickzackentscheidungen zu erschweren.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und
der LINKEN]

Womit ich nicht gerechnet habe – und ich bin hier einiges gewöhnt –, ist, dass uns keine zwei Wochen nach einer ambitionierten Regierungserklärung nicht mehr vorgelegt wird als die Revision des von 700 000 Berlinerinnen und Berlinern beschlossenen Tempelhof-Gesetzes.

 Ja, die Unterbringung von Geflüchteten ist eine riesige Herausforderung für die Stadt. – Herr Geisel! Das hat Ihnen im Übrigen die Opposition seit 2012, seit 2014 gesagt.

[Beifall bei der LINKEN]

Es wäre übrigens fair, wenn Sie zuhören, Herr Geisel. Sie haben hier eine halbe Stunde geredet. Ich kann fünf Minuten darauf reagieren. Es gebietet vielleicht die Höflichkeit, dass Sie mir an der Stelle einfach mal zuhören!

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN –
Beifall von Alexander Spies (PIRATEN)]

Und wenn Michael Müller sagt, Denkverbote darf es nicht geben, dann sage ich: Denk- und vor allem Handlungsverbote scheinen im Senat von Berlin aber überall zu existieren, und zwar nicht nur bei der Frage, ob nach anderthalb Jahren ein erfolgreicher Volksentscheid im Schweinsgalopp und mit dringlicher Vorlage durch dieses Parlament ausgehebelt werden darf. Und wenn sich Herr Geisel jetzt herstellt und sagt, das ist ein Vorratsgesetz, das ist ein Vorsorgegesetz – warum muss das dann jetzt innerhalb von zwei Wochen verhandelt und hier durchgepeitscht werden? Das ist doch unbegreiflich.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Es reicht halt nicht, Beteiligung immer nur zu propagieren und zu behaupten, man wäre dazu bereit, man muss es ab irgendeinem bestimmten Punkt auch einfach mal machen, Herr Geisel! Und dazu hätte die Zeit gereicht, wenn Sie es nicht am 10. Dezember hier hätten verabschieden wollen.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und
der LINKEN]

Ich sage Ihnen aber auch, dass der Plan des Senats, dort eine Massenunterkunft für 10 000 bis 12 000 Menschen zu erreichten, von all den Lösungen, die hier diskutiert werden, die denkbar schlechteste ist.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und
der LINKEN]

Schon jetzt ist die Situation dort dramatisch. 2 300 Menschen in drei Hangars! Brandschutzprobleme und katastrophale hygienische Bedingungen! Strom, Heizung und Wasserversorgung sind nicht vorhanden, und medizinische Versorgung ist kaum gegeben. Es gibt keine Möglichkeit für eine Intimsphäre und dafür, ein paar persönliche Dinge einfach mal wegzuschließen. Waschmaschinen und Trockner – Fehlanzeige! Die Anlage hat Lagercharakter mit Industriehallenatmosphäre, vollgestellt mit Doppelstockbetten. Mag ja sein, Herr Geisel, dass Sie gern so leben. Dann ziehen Sie doch da hin!

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN –
Evrim Sommer (LINKE): Genau!]

Der Lärmpegel ist hoch. Pro Person gibt es 2 Quadratmeter Platz. Statt, wie behauptet, für maximal 14 Tage halten sich manche Menschen dort mittlerweile seit der Eröffnung der Hangars auf. Es handelt sich um die mit Abstand schlechteste Notunterkunft, die Berlin betreibt. Herr Geisel! Traglufthallen – Sie sagen ja selbst, dass da drei Mal so viele hineinpassen wie in Schulturnhallen – machen es keinen Deut besser.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN –
Zuruf von Senator Andreas Geisel]

– Nein! Jetzt rede ich. Sie haben eine halbe Stunde geredet, und Sie haben mir noch nicht mal richtig zugehört. Jetzt rede ich, und Sie hören mal zu. –

[Beifall bei der LINKEN]

Nur, weil Sie es ein Jahr lang nicht hinbekommen, diese lausige Unterbringung zu verbessern, akzeptieren weder wir noch die Initiative diesen gegebenen Normalzustand. Denn wenn Sie sich hier vorn hinstellen und sagen, dass das jetzt alle akzeptieren, dann sage ich: Nein! Das ist Ausdruck des Versagens Ihres Senats. Aber wir akzeptieren das nicht. Wir akzeptieren diese Art der Unterbringung nicht. Auch wenn Sie das hundert Mal erzählen, werden wir das nicht tun.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Beifall von Thomas Birk (GRÜNE) und
Katrin Schmidberger (GRÜNE)]

Dass diese Zustände jetzt auch noch potenziert werden, ist aus meiner Sicht der absolut falsche Weg, zumal Sie uns bis heute nicht sagen können, welchen Aufwand und welche Zeit die Planung, Realisierung und Erschließung mit Wasser, Abwasser, Strom und Straßenerschließung für Feuerwehr und Rettungsdienste erfordern werden – für das, was Sie da vorhaben.

 Anstatt der hektischen, hilflosen Diskussion über die Massenunterbringung anhand von Einzelstandorten sollte der Senat genau das tun, was Sie eben erneut in Aussicht gestellt haben, Herr Geisel, nämlich endlich ein transparentes und geeignetes Konzept für die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in ganz Berlin zu entwickeln. Insofern hätten Sie mal mit der Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ reden müssen. Dass sich Herr Gaebler da mal hinstellt und sagt: Wir machen das jetzt übrigens so und so! –, ist noch kein Gespräch mit einer Initiative und keine Beteiligung von Leuten.

 Das gilt auch für uns. Wir wären durchaus bereit, als Ultima Ratio auch über die Möglichkeiten temporärer Unterbringung am Tempelhofer Feld zu reden, aber der Senat hat bisher überhaupt nicht überzeugend dargelegt, warum die Nutzung des Flughafenvorfelds schlechter wäre. Die Argumente, die Sie eben aufgemacht haben, setzen nur voraus, dass Sie jetzt erst mal für gegeben annehmen, dass diese Masse von Leuten dort untergebracht werden soll, und deswegen müssen Sie dann irgendwie Schulen, temporäre Kitas und so etwas auf den Vorplatz stellen. Das ist ja genau das, was wir von einem Konzept verlangen, dass solche Überlegungen breiter angestellt werden und dass man keine Kleinstadt an das Tempelhofer Feld stellt. Das wollen weder wir noch die Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“.

 Insofern kann ich überhaupt nicht sehen, welche Sachlage jetzt eine Revision des Volksgesetzes innerhalb von nur zwei Wochen rechtfertigen würde, zumal der Gesetzentwurf auch noch widersprüchlich ist. Herr Geisel! Das macht einen sofort misstrauisch, wenn im Gesetzentwurf in der Begründung von Modulbauten gesprochen wird, aber im Gesetzestext selbst nicht. Na, was wollen Sie denn da nun? – Wäre ich von der Initiative, würden bei mir alle Alarmglocken läuten. Ich finde, das zeugt von wenig Respekt seitens dieser Koalition gegenüber direkter Demokratie. Nicht, dass das neu wäre. Den Volkswillen beiseite zu schieben, ist nicht unbedingt Respekt gegenüber dem Volkswillen, Herr Geisel. Aber Ihre Dialektik ist speziell.

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Es ist noch nicht einmal schlau, denn Sie legen sich jetzt mit allen an und machen eine riesige Welle. Ihr Dialog-angebot wird, wenn Sie schon alles entschieden haben, nur noch Spott und Hohn auslösen. Wer soll den zukünftig den Rest von Vertrauen haben, dass die Ergebnisse direktdemokratischer Verfahren von den Regierenden akzeptiert werden? – Und dann fragen Sie sich mal, ob es das jetzt wirklich wert ist, Herr Geisel! Wäre diese Energie, die Sie jetzt brauchen, nicht besser für die Bewältigung der Probleme bei der Hilfe und Integration von Geflüchteten eingesetzt?

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Dass Sie das nicht tun, nährt viele Zweifel, dass es Ihnen hier zuallererst um die Lösung einer akuten stadtpolitischen Herausforderung geht. Sie haben selbst das schöne Wort „Salamitaktik“ in den Raum gestellt. Wer soll Ihnen denn glauben, dass das nicht die erste Scheibe einer Salami ist, um im Nachhinein Ihre Pläne durchzusetzen, für die Sie vor anderthalb Jahren von den Berlinerinnen und Berlinern eine große Abfuhr bekommen haben?

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Zitat:

Auch als jemand, der am Tempelhofer Feld für eine Randbebauung war, hat man ein schlechtes Gefühl.

Das sagt das SPD-Mitglied Klaus Böger, Präsident des Landessportbunds – jemand, der aus meiner Sicht allen Grund hat, die bisherige Praxis der Notunterkünfte zu kritisieren und von Ihnen strategisches Handeln einzufordern. Wir haben mehr als ein schlechtes Gefühl, Herr Geisel. Wir ahnen die Absicht, und deswegen werden wir Ihr Gesetz ablehnen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

 Vizepräsident Andreas Gram:

Danke schön! –

...

 

Vizepräsident Andreas Gram:

 – Der Kollege Udo Wolf hat um eine Zwischenbemerkung gebeten. – Ich erteile Ihnen das Wort!

[Zuruf von den GRÜNEN und der LINKEN]

– Das ist dasselbe wie eine Kurzintervention!

[Zuruf von den GRÜNEN: Geht doch!]

 Udo Wolf (LINKE):

Wie auch immer – danke, Herr Präsident! – Liebe Ülker Radziwill! Ich frage Sie: Ist Ihnen in irgendeiner Art und Weise ein Dokument bekannt, mit dem der Senat den von uns seit mindestens drei Monaten, seit wir seit der Sommerpause das Flüchtlingsthema diskutieren, geforderten transparenten Nachweis erbracht hat, welche Flächen, welche Büroflächen, welche Immobilien im Landes- oder Bundesbesitz oder möglicherweise im Privatbesitz frei sind und besetzt werden könnten? Ist Ihnen eine solche geprüfte Unterlage bekannt? Solange das nicht bekannt ist – und uns ist hier im Hause nichts dergleichen vorgelegt worden, obwohl wir es in drei Debatten immer wieder eingefordert haben –, gibt es keine wirkliche Begründung dafür, dass das Tempelhofer Feld alternativlos in dieser Frage ist.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Die einfache wortreiche Behauptung des Senators, ohne einen Beleg dafür zu bringen, ist einfach unangemessen, wenn es heute darum geht, ein Volksgesetz zu ändern.

 Liebe Frau Kollegin Radziwill! Sie wissen ganz genau, und deshalb ist es einigermaßen unanständig, uns vorzuwerfen, dass wir dieses Thema auf dem Rücken der Flüchtlinge austragen wollten,

[Zuruf von Ellen Haußdörfer (SPD)]

dass wir seit Jahr und Tag – im Übrigen auch einmal gemeinsam, Frau Radziwill – sehr engagiert waren und sind, was die Flüchtlingsunterbringung

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

und die Frage dessen angeht, was Ihr Regierender Bürgermeister in der letzten Regierungserklärung als politische Linie ausgegeben hat.

 Es ist unverantwortlich, immer wieder zu sagen, solche weitreichenden Eingriffe seien alternativlos, wenn die anderen Sachen nicht geprüft sind. Das führt zu Überforderungs- und Krisenrhetorik, zu Sachen, die – auwei! – nur unter ganz drastischen und dramatischen Maßnahmen zu stemmen sind. Machen Sie das nicht mit! Gehen Sie einfach an Ihre Arbeit, arbeiten Sie das ab, was geht, und danach können wir reden, ob so drastische und dramatische Maßnahmen noch notwendig sind. Bisher haben Sie den Nachweis nicht erbracht, dass sie notwendig sind. Deshalb bitte ich Sie: Führen Sie Debatten wie die zum Tempelhofer Feld eben nicht auf dem Rücken der Flüchtlinge, indem Sie etwas beantragen, von dem Sie nicht nachgewiesen haben, dass Sie es wirklich benötigen!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

 

Kontakt