Schlussfolgerungen aus dem Tegel-Volksentscheid
Alle wissen, dass Berlin eine Offenhaltung Tegels nur erreichen kann, wenn es eine Zustimmung Brandenburgs und des Bundes gibt. Und auch dann nur unter Überwindung einiger weiterer schwerwiegender juristischer Hürden.
15. Sitzung, 28. September 2017
Aktuelle Stunde
Schlussfolgerungen aus dem Volksentscheid Tegel
Udo Wolf (LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ja nicht wenige, die den Volksentscheid Tegel zum Volksentscheid über den rot-rot-grünen Senat umdeuten wollen. Die Absicht war vor dem 24. September klar, und mancher Beitrag – wie auch heute schon gehört – zum Ausgang ist auch so doof, dass man sich schon wundert, warum Leute, ohne noch mal auf die Zahlen zu schauen, so hanebüchenen Unsinn erzählen.
Es gab Bundestagswahlen, und es gab einen Volksentscheid. In Berlin haben sich die drei Parteien der rechten Opposition mit dem Volksentscheid Mitnahmeeffekte für ihr Bundestagswahlergebnis erhofft. Und ein Blick auf die Zahlen zeigt: Während in der Bundesrepublik insgesamt ein erschreckender Rechtsruck zu verzeichnen ist, bleibt Berlin anders, und das ist auch gut so.
Die Parteien von Rot-Rot-Grün kommen zusammen auf 49,3 Prozent, die Parteien der rechten Opposition und Unterstützer des Tegel-Volksentscheids kommen zusammen auf 43,6 Prozent. Und, liebe Jamaica-Freunde in den Redaktionsstuben, Jamaica käme in Berlin auch nur auf 44,2 Prozent und hätte keine Mehrheit.
Und nur mal wegen der Vollständigkeit: Die Berliner CDU hat eben trotz ihres klugen und geschickten Wendehalswahlkampfs auch massive Verluste zu erklären, Herr Graf!
Und die Berliner FDP ist ganz deutlich unter dem Bundesdurchschnitt eingelaufen, Herr Czaja. Also kein Grund, hier allzu sehr auf die Sahne zu hauen.
Die Ergebnisse belegen also eher, dass bei aller Kritik, die es an Rot-Rot-Grün geben könnte, die Wählerinnen und Wähler in Berlin gar keine andere Regierungsmehrheit ermöglichen wollen.
Was richtig ist: Den Volksentscheid haben wir nicht gewonnen. Eine Mehrheit will, dass der Senat sich für die dauerhafte Offenhaltung Tegels einsetzen soll.
Dass bei Volksentscheiden auch Dinge entschieden werden können, die man selbst falsch oder sogar gefährlich findet, liegt in der Natur der Sache. Als Verfechter der direkten Demokratie waren wir zu rot-roten Zeiten mit Grünen und anderen daran beteiligt, die Hürden für Volksentscheide zu senken – aus voller Überzeugung, weil wir dieses demokratische Instrument außerordentlich wichtig finden.
Deswegen ist es für uns selbstverständlich, dass wir das Ergebnis des Volksentscheides sehr, sehr ernst nehmen und respektieren.
Was kann und muss jetzt konkret geschehen? – Raed Saleh hat es noch einmal gesagt: Die Kanzlerin hat vor der Bundespressekonferenz – also Ihre Kanzlerin, es wird ja möglicherweise eine Konstante bleiben, auch nach der Bundestagswahl –, die Kanzlerin hat vor der Bundespressekonferenz und das Bundesverkehrsministerium hat vor der Wahl noch einmal eindeutig bestätigt: Die Rechtslage ist eindeutig.
Die durch den Volksentscheid beschlossene Bemühenszusage hat daran nichts geändert. Sie selbst wissen ganz genau, dass Berlin diese Entscheidung nicht allein treffen kann.
Alle wissen, dass Berlin eine Offenhaltung Tegels nur erreichen kann, wenn es eine Zustimmung Brandenburgs und des Bundes gibt. Und auch dann nur unter Überwindung einiger weiterer schwerwiegender juristischen Hürden.
Selbst dann, diese aus meiner Sicht eher unwahrscheinliche Zustimmung des Bundes und Brandenburgs vorausgesetzt, am Ende langer juristischer Auseinandersetzungen, ist eine neue Betriebsgenehmigung für TXL – um es vorsichtig zu formulieren – sehr unwahrscheinlich bis ausgeschlossen.
Deshalb kann der Senat erst einmal nur – und das hat Michael Müller bereits am Montag erklärt – so schnell wie möglich das Gespräch mit den beiden anderen Gesellschaftern suchen – und zwar um zu klären, ob es überhaupt eine Bereitschaft gibt, diesen in vielerlei Hinsicht riskanten Weg zu gehen.
Das erste Signal des Ministerpräsidenten Woidke war klar. Aber natürlich wird das nicht über die Medien verhandelt, sondern selbstverständlich wird man sich dazu ernsthaft zusammensetzen. Gleiches gilt für die Bundesregierung. Dann werden wir sehen, ob das Wort der Bundeskanzlerin auch noch nach der Wahl gilt.
Und wir werden sehen, wie realistisch es ist, dass Brandenburg und/oder die Bundesregierung alle jahrelangen Planungen komplett über den Haufen werfen und die enormen finanziellen und rechtlichen Risiken einzugehen bereit sind.
Ihr Dringlichkeitsantrag hingegen, Herr Czaja und Herr Graf, ist dermaßen inkonsistent und abenteuerlich, dass er nur abgelehnt werden kann, wenn man kein unauflösbares Chaos anrichten will.
Nur ein Beispiel: Der Senat kann nicht einfach umstandslos ohne Brandenburg schon einmal vorab den Widerruf des Widderrufs beschließen, aber das wissen Sie ja selbst. Außerdem beantragen Sie Dinge, die weit, weit über das hinausgehen, was beim Volksentscheid beschlossen worden ist.
Wir haben als Koalition darum gekämpft, die Berlinerinnen und Berliner mit Argumenten zu überzeugen, nicht nur mit juristischen, sondern auch, weil wir glauben, dass Tegel zu schließen ein Gewinn für die gesamte Stadt ist.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz besonders den Bürgerinitiativen, dem Bündnis „Tegel schließen“, den Anwohnerinnen und Anwohnern rund um den TXL herzlich danken. Sie haben eine großartige und unermüdliche Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit geleistet. Danke dafür! Nicht nur das. Wir sind Ihnen auch weiterhin verpflichtet, Ihr berechtigtes Interesse an Sicherheit, an Schutz vor Fluglärm ist nach dem Volksentscheid nicht obsolet geworden. Die Interessen der 300 000 vom Lärm betroffenen Menschen werden auch im weiteren Verfahren eine gewichtige Rolle spielen.
Aber genauso müssen wir uns darum kümmern, dass die Menschen im Südosten zu Ihrem Recht kommen. Dazu gehört, dass wir den dort versprochenen Lärmschutz auch zügig und möglichst unbürokratisch umsetzen. Es kann nicht sein, dass Menschen dort über Monate mit Behörden streiten müssen, um den von ihnen benötigten Schallschutz zu bekommen. Das muss sich dringend ändern.
Der Volksentscheid hat aber auch gezeigt, wenn Rot-Rot-Grün gemeinsam mit Bürgerinitiativen für etwas kämpft, kann das mobilisieren.
Es ändert nichts am Ergebnis, aber ich bin schon stolz darauf, dass das Tegel-schließen-Bündnis und R2G gegenüber den Umfragewerten zu Beginn der Kampagne noch an die 20 Prozent aufgeholt hat.
Hätten wir diese gemeinsame Mobilisierungsfähigkeit, die offensive Auseinandersetzung gegen den billigen Populismus schon früher und entschlossener in die Waagschale geworfen, wer weiß, wie es ausgegangen wäre.
Die Tegel-Debatte, aber viel mehr noch die Bundestagswahl haben gezeigt: Unsere Gesellschaft ist tief gespalten. Es ist erschreckend, wie zynisch und egoistisch Debatten geführt werden. Es gibt eine massive Entsolidarisierung in der Gesellschaft, eine Brutalisierung der öffentlichen Debatten und Diskurse. Gemeinwohlinteressen werden zunehmend belächelt oder ganze gesellschaftliche Gruppen einfach davon ausgegrenzt.
Jahrzehnte neoliberaler Bundespolitik haben ihre Spuren hinterlassen. Wenn Erfahrungsberichte von Menschen, denen im Minutentakt die Flieger über den Kopf donnern, mit „Dann zieh‘ doch weg!“, beantwortet werden, dann ist das schon ein harter Ausdruck einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung.
Wenn Menschen, denen es schlecht geht oder die Angst vorm sozialen Abstieg haben, sich vor allem wünschen, dass es anderen, insbesondere Flüchtlingen, aber dann noch schlechter gehen soll und sie das Gerechtigkeit nennen, dann wird mir schlecht. Wenn Geschichtsrevisionisten und Nazis mit der AfD in den Deutschen Bundestag einziehen, wenn Wehrmachtsverbrechen relativiert werden, wenn Gedenken an den Holocaust als Schuldkult diffamiert werden, dann meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sollten wir uns eines bewusst machen: Wir tragen hier in Berlin gemeinsam eine große Verantwortung, diesen gesellschaftlichen Rechtsruck – –
– Wir tragen hier in Berlin eine gemeinsame große Verantwortung. Diesem gesellschaftlichen Rechtsruck, dem Rassismus, der Ausgrenzung und Demokratiefeindlichkeit können wir nur wirksam begegnen, indem wir zusammenhalten.
Rot-Rot-Grün muss sich nicht untereinander gegeneinander profilieren. Dass wir gemeinsam erfolgreich sein können, darauf geben die Berliner Wahlergebnisse, aber auch der Verlauf der gemeinsamen Tegel-Kampagne ein paar zarte Hinweise.
In dieser Situation, nach dem Bundestagswahlergebnis, gibt es immer noch eine Mehrheit in Berlin und nicht wenige Menschen in der Bundesrepublik, die wollen, erwarten und hoffen, dass dieses rot-rot-grüne Bündnis hier erfolgreich ist – für eine solidarische, soziale, ökologische, weltoffene und demokratische Metropole auch als Hoffnungszeichen gegen eine drohende Diskurshegemonie der rechtsextremen Stammtische. Es wird nicht leicht, aber drunter wird es nicht gehen.
Und ja, wie schon gesagt, der Senat wird das tun, was der Volksentscheid aufgetragen hat. Das hat der Regierende Bürgermeister veranlasst. Wir erwarten die Antwort der Bundesregierung und diskutieren das mit der Brandenburger Landesregierung. Aus dem Ergebnis der Gespräche leiten sich die weiteren Schritte ab. Es ist egal, wie viel wir da tun und wie viel Mühe wir uns geben, dass die rechte Opposition immer sagen wird: Ist nicht genug! –, das ist irgendwie erwartbar.
Davon muss man sich nicht kirre machen lassen. Wichtig ist, dass wir korrekt und transparent handeln. Das werden wir tun!