Udo Wolf zur Regierungserklärung

Wie kann man bei diesem Elend überhaupt von Erfolg reden oder von einem guten Tag für Berlin, nur weil die Flüchtlinge den Oranienplatz verlassen haben? Klar, für die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit dieser Menschen ist es gut, aber die Flüchtlingspolitik dieses Landes ist wieder nur um eine traurige Facette reicher.

aus dem Wortprotokoll

46. Plenarsitzung
Udo Wolf zur Regierungserklärung von Klaus Wowereit

lfd. Nr. 13:

Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden ausweiten: Residenzpflicht für Berlin und Brandenburg aufheben

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung vom 17. März 2014
Drucksache 17/1547

zum Antrag der Fraktion Die Linke
Drucksache 17/1237

Präsident Ralf Wieland:

– Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Wolf das Wort. – Bitte schön, Herr Kollege!

Udo Wolf (LINKE):

Danke, Herr Präsident! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, hier geht es heute verlogener zu als sonst üblich.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN –
Oh! von der SPD und der CDU]

Herr Wowereit! Die Frage lautet: Warum jetzt? – Sie haben 2004 die wunderbare Verpflichtung europäischer Bürgermeister für eine humanitäre Flüchtlingspolitik unterzeichnet. Spätestens vor einem Jahr wäre es an der Zeit gewesen, eine Regierungserklärung zu diesem Thema abzugeben. Da haben Sie geschwiegen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Jetzt, nachdem Sie über eineinhalb Jahre nur zugesehen haben, das Problem durch Nichthandeln immer größer wurde, die Flüchtlinge immer verzweifelter, da wollen Sie die angebliche Lösung des Problems als Erfolg feiern. Das ist eine mittelschwere intellektuelle Beleidigung.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN
und den PIRATEN]

Wie kann man bei diesem Elend überhaupt von Erfolg reden oder von einem guten Tag für Berlin, nur weil die Flüchtlinge den Oranienplatz verlassen haben? Klar, für die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit dieser Menschen ist es gut, aber die Flüchtlingspolitik dieses Landes ist wieder nur um eine traurige Facette reicher.

Worin besteht der Erfolg? Dass die Grünfläche wieder frei ist? Keine der politischen Forderungen der Flüchtlinge ist erfüllt. Alles, was sie bekommen, ist eine Einzelfallprüfung in Berlin und bis zur Klärung ihres Aufenthaltsstatus eine Unterkunft. Ich bitte Sie! Das ist ja wohl das Mindeste, was man erwarten kann!

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN
und den PIRATEN]

Die Vermutung liegt nahe, dass die Erfolgsparty das Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ trägt. Gestatten Sie uns, dass wir da nicht mitfeiern!

Als die Flüchtlinge 2012 aus ganz Deutschland nach Berlin gekommen sind, um für ihre Rechte zu kämpfen, als es zum Hungerstreik am Brandenburger Tor kam und das Camp am Oranienplatz gegründet wurde, haben viele sozialdemokratische Freunde erklärt, die Residenzpflicht sei eine unsinnige Schikane und gehöre abgeschafft. Recht so! Eine Bemühenszusage gab es, auch von Frau Kolat, sich auf Bundesebene einzusetzen. Was ist passiert? – Nichts ist passiert. Im Gegenteil!

Unser Antrag, zumindest die Residenzpflicht aufzuheben, liegt heute vor. – Die Residenzpflicht zwischen Berlin und Brandenburg wurde übrigens, Klaus Wowereit, unter Rot-Rot gelockert, aber nicht aufgehoben. Woran ist es gescheitert? – An der damals großen Koalition in Brandenburg! – Unser Antrag wurde im Innenausschuss mit den Stimmen Ihrer Koalition, Herr Wowereit, Frau Kolat, abgelehnt. Wenn es Ihnen in dieser Frage wirklich ernst ist – er steht heute auf der Tagesordnung, stimmen Sie diesem Antrag zu!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Frau Kolat! Machen Sie endlich etwas gegen das Arbeitsverbot für Flüchtlinge! Sie, Herr Wowereit, sollten wissen, was für eine Unmenschlichkeit dieses Arbeitsverbot darstellt. Wenn nicht, lesen Sie die Erklärung, die Sie 2004 unterschrieben haben, noch mal durch! Und Sie, Frau Arbeitssenatorin, sollten wissen, was für ein volkswirtschaftlicher Unsinn dieses Arbeitsverbot darstellt. Sie klagen zu Recht über Fachkräftemangel. Viele Flüchtlinge, die es bis nach Berlin geschafft haben, sind hochqualifiziert. Sie werden gegen ihren Willen in die Sozialsysteme gezwungen und dann von der CDU beschimpft, dass sie uns zur Last fallen. Was macht die SPD im Bund, was macht sie hier? – Sie versteckt sich hinter den Ressentiments der CDU-Rechten.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Die Bundesrepublik Deutschland ist eins der reichsten Länder der Erde. Deutschland diktiert in Europa ökonomisch und politisch gerne die Preise. Die Bundesrepublik exportiert Waffen und Kriegsgeräte in alle Welt. Und in der Bundesrepublik wird nicht wenig am Wohlstandsgefälle in der Welt verdient. Wenn aber Menschen, die vor Krieg, Hunger und Not, an deren Verursachung auch die Politik der Bundesrepublik Deutschland nicht unschuldig ist, flüchten, wenn diese Menschen es bis nach Berlin schaffen, trotz Schengen, Frontex und aller Hürden der Festung Europa, die es schon gibt – dann begegnet ihnen in Reinickendorf die feine CDU-Gesellschaft mit einem Zaun um den Kinderspielplatz und dem Hinweis: Für Flüchtlingskinder verboten! – Wie widerlich ist das denn?

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Und wenn vor Lampedusa Flüchtlinge wegen unterlassener Hilfeleistung ertrinken, begegnet ihnen diese unglaubliche Heuchelei, dass der Blätterwald sich über Italien und die menschenfeindliche Behandlung von Flüchtlingen empört – zu Recht –, aber mit keiner Silbe erwähnt, dass die Rechtsgrundlage für dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland erfunden und durchgesetzt wurde.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Die Leute auf dem Oranienplatz haben dagegen demonstriert, weil sie verzweifelt sind, nicht weil sie gerne unter miserablen hygienischen Umständen hausen. Nur nebenbei: Es hätte dieser Stadt gut zu Gesicht gestanden, wenn einige Zeitungen mit derselben Entschlossenheit, mit der sie über die Rattenplage auf dem Camp berichtet haben, den Regierenden Bürgermeister zum Handeln für die Flüchtlinge aufgefordert hätten.

Welche Initiative hat denn der Senat auf Bundesebene zur Verbesserung der Flüchtlingsrechte ergriffen? Wie hat Klaus Wowereit seine guten Kontakte zur Bundesebene genutzt? Was hat Herr Henkel unternommen, der an den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene beteiligt war und deswegen so selten an den Innenausschusssitzungen teilnehmen konnte? – Selbst die ersten Verhandlungen mit den Flüchtlingen hat nicht der Senat angestoßen, nicht Herr Wowereit, sondern die Kirchen, Diakonie und Caritas, waren die ersten, die das Gespräch gesucht haben. Es gibt keinen Grund für Sie, zufrieden zu sein, Herr Wowereit! Wer in der Flüchtlingspolitik etwas ändern will, muss als Senatschef deutlich mehr leisten!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Frau Kolat! Ich habe durchaus Respekt vor Ihrer Verhandlungsleistung,

[Beifall von Björn Eggert (SPD)]

nicht so sehr wegen des Ergebnisses, sondern wegen der Probleme, vor die Sie durch den Senat und den eigenen Chef gestellt wurden. Wir erinnern uns: Chefverhandlerin wurden Sie, nachdem der Innensenator – wie ich vermute, nach Absprache mit dem Regierenden Bürgermeister – ein Räumungsultimatum für den Oranienplatz gestellt hat. Der Innensenator wollte Härte zeigen – nachdem er sonst nichts auf die Reihe kriegt und bei CDU-Rechten schon als Weichei gilt, erklärlich.

[Beifall bei der LINKEN –
Benedikt Lux (GRÜNE): Nicht nur bei denen!]

Aber als er die Sache dann wirklich an sich ziehen wollte, hat der Regierende Bürgermeister ihm gezeigt, wie Gruppenhydraulik à la Wowereit im Senat funktioniert. Wenn der kleine König schwer angeschlagen ist, hetzt er die Fürsten aufeinander, die um seine Nachfolge buhlen – Machiavelli für Arme!

Die Versuchsanordnung war klar: Entweder erzielt Frau Kolat ein Ergebnis, bei dem die Flüchtlinge den Oranienplatz verlassen, oder es wird geräumt. Die Flüchtlinge hatten kaum eine Wahl. Dass Herr Henkel, nachdem er so ausgebremst wurde, keine aufenthaltsrechtlichen Zugeständnisse angeboten hat, war klar. Frau Kolat musste also durchgängig nach zwei Seiten verhandeln, was ihr der Regierende Bürgermeister hätte ersparen können, wenn er frühzeitig seine Richtlinienkompetenz genutzt hätte. Hat er aber nicht!

Das Hickhack im Senat geht weiter. Während der Regierende Bürgermeister Frau Kolat für ihr Verhandlungsgeschickt lobt, war in der gleichen Radiomeldung zu hören, dass Senator Czaja Frau Kolat kritisiert, weil sie ihm zu viele Flüchtlinge zur Unterbringung aufbürdet. Das ist doch grotesk!

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN
und den PIRATEN]

Ausgerechnet der Sozialsenator, der die Entwicklung verpennt hat und es nicht schafft, ausreichend menschenwürdige Unterbringungsplätze zu besorgen!

[Beifall von Fabio Reinhardt (PIRATEN) –
Torsten Schneider (SPD): Aber klein-klein!]

Wir haben am Oranienplatz nicht das Ende von heiklen Missionen erlebt, denn das eigentliche Problem bleibt. Auch wenn die Flüchtlinge jetzt nicht mehr zu sehen sind, ist für die meisten von ihnen dennoch keineswegs klar, wie es weitergeht. Sie bleiben verzweifelte Menschen, die in Berlin gelandet sind und Schutz suchen. Es sind Menschen, die alles zurücklassen mussten, was sie in ihrer Heimat hatten. Sie haben nichts zu verlieren, und es ist verständlich, dass sie auch radikalere Protestformen nutzen, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Sie haben ihr Zuhause verlassen, weil sie und ihre Angehörigen sonst verhungert wären. Es sind Flüchtlinge in Berlin, die Krieg oder Folter erlebt haben, die gerade einmal ihr nacktes Leben retten konnten. Es sind Menschen hier, die sich entscheiden mussten: Sterbe ich in der Heimat, oder mache ich mich auf eine lebensgefährliche Reise, bei der ich genauso sterben kann? Es sind Menschen hier, die mit ansehen mussten, wie ihre Kinder im Mittelmeer ertrunken sind.

Wegen des Kriegs in Syrien sind zurzeit mehr als 8 Millionen Menschen auf der Flucht. Allein der Libanon hat 1 Million Flüchtlinge aufgenommen. Der Libanon hat viereinhalb Millionen Einwohner. Das ist, als würde Berlin mehr als 800 000 Flüchtlinge aufnehmen. Aber Deutschland sieht seine Belastungsgrenze mit wenigen tausend Syrerinnen und Syrern erreicht. Zwölf Syrer sitzen derzeit im Abschiebegewahrsam in Grünau. Und dann, Herr Wowereit, reden die Vertreter Ihres Koalitionspartners davon, dass man keine Einwanderung in unsere Sozialsysteme wolle. Es sind übrigens nicht die Berlinerinnen und Berliner, die so etwas sagen, die übergroße Mehrheit in der Stadt hat nämlich kein Problem mit Flüchtlingen in ihrer Nachbarschaft. Die Ablehnung kommt aus der Politik selbst. Und wenn Sie sich jetzt für ihre humanitäre Flüchtlingspolitik feiern lassen wollen,

[Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Anmaßend!]

dann bleibt heute nur eins – Ihnen zu sagen: Denken Sie einen Moment darüber nach, ob Sie jemals so behandelt werden wollen wie die Flüchtlinge in Berlin!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den
PIRATEN]

Präsident Ralf Wieland:

Vielen Dank! –

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