Wir brauchen die Atomenergie nicht!

Das Gerede über Stromengpässe, die Preissteigerungsankündigungen sind Lobby-Propaganda

16. Wahlperiode - 79. Sitzung:  Der Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE, Udo Wolf, zur Katastrophe in Japan – Solidarität und Hilfe für die Opfer geben, Konsequenzen für Vorsorge und Einsatz von Risikotechnologien ziehen

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Auch ich möchte im Namen meiner Fraktion den Menschen in Japan, in unserer Partnerstadt Tokio unser Beileid, unser Mitgefühl und unsere Solidarität aussprechen. Ich glaube, niemand kann sich der Wucht der Bilder entziehen, die uns seit dem 11. März erreichen. Ich möchte betonen, dass die Ursache für die schrecklichen Bilder, für die vielen Todesopfer, die Verwüstungen und all das Leid ein Erdbeben und ein Tsunami war. Es war eine Naturkatastrophe. Angesichts dieser Naturkatastrophe stellt sich nicht die Frage nach politischer Schuld oder Verantwortung. Mancher Streit, den wir hier im Hause und auch in der Koalition haben, verliert an Bedeutung, wenn wir uns das unermessliche Leid, das diese Katastrophe bringt, vor Augen führen.

[Allgemeiner Beifall]

Wir wissen heute noch nicht, wie viele Menschen schon allein durch das Erdbeben und den Tsunami sterben mussten und wie viele alles verloren haben – ihre Familie, ihre Freunde, ihre Wohnung und ihre Lebensgrundlage. Tausende Menschen werden vermisst, Tausende sind obdachlos. Noch immer erschüttern zum Teil schwere Erdbeben die Erde, und die Menschen leben in ständiger Angst. Wenn jetzt zu diesem unermesslichen Leid auch noch ein atomarer GAU oder, wie es derzeit möglich scheint, vielleicht ein Super-GAU kommt, übersteigen das Ausmaß dieser Katastrophe und vor allem die Folgewirkungen meine Vorstellungskraft.

Selbstverständlich haben wir auch in der Koalition – Kollege Müller hat es schon angesprochen –, darüber nachgedacht, ob es sinnvoll ist, über eine Katastrophe am anderen Ende der Welt hier in unserem kleinen Landesparlament eine Aktuelle Stunde durchzuführen. Nicht nur die Grünen haben das gefragt, sondern auch manche Journalisten: Was hat dieses Thema in der Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses zu suchen?

Ich sage ihnen nicht nur, dass Tokio unsere Partnerstadt ist, dass viele Menschen, die hier leben, ihre Wurzeln, Freunde und Verwandte in Japan haben, dass es viele Menschen gibt, deren Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde oder Verwandte gerade in Japan sind, und dass viele Menschen in Berlin ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen in Japan auch aus diesem Hause erwarten. Das alles wäre schon Grund genug für eine Aktuelle Stunde hier im Abgeordnetenhaus. Es kommt jedoch noch hinzu, dass die Menschen in Berlin, obwohl sich das alles auf der anderen Seite der Erde abspielt, angesichts dieser Katastrophe und dieser Bilder verunsichert sind.

Wir alle sind gut beraten, uns zu fragen, was diese Zäsur für uns bedeutet. Wäre eine ähnliche Katastrophe auch hier möglich? Wären wir auf ein solches Schreckensszenario vorbereitet? Allerspätestens hier steht auch die Frage nach politischer Verantwortung, und zwar hier bei uns, in der Bundesrepublik und in Berlin.

25 Jahre nach Tschernobyl ist uns allen wieder vor Augen geführt worden, dass das Restrisiko einer atomaren Katastrophe keine einfache statistische Rechengröße ist. Es kann tatsächlich passieren, und zwar nicht bei einem alten russischen Reaktor, der angeblich nicht auf westlichem Standard betrieben wurde,

[Michael Schäfer (Grüne): Angeblich?]

sondern bei einem Reaktor einer der Hightech-Nationen, wenn nicht sogar der Hightech-Nation, nämlich Japan. Dass angesichts dieser Katastrophe die japanische Regierung und die Behörden offensichtlich in vielerlei Hinsicht bis zu der einfachen Frage der Informationspolitik überfordert sind, mache ich niemandem zum Vorwurf, aber es beruhigt auch nicht wirklich.

Es gab gute, wissenschaftlich fundierte Gründe, die Diskussion über den Atomausstieg zu führen. Trotz der Halbherzigkeit des Ausstiegs des rot-grünen Atomkompromisses sollte der Weg zumindest in die richtige Richtung führen. Es war ein schwerer Fehler der Bundesregierung, sich im Oktober des letzten Jahres auch noch aus dem mühsamen Ausstiegskompromiss zu verabschieden.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Um durchschnittlich zwölf Jahre ist die Laufzeit der 17 Kernkraftwerke in Deutschland damit verlängert worden, bei Kernkraftwerken mit Beginn des Leistungsbetriebs bis einschließlich 1980 um acht Jahre, bei den jüngeren Kernkraftwerken um 14 Jahre, und das mit einer Begründung, die so lächerlich ist, dass man sich fragen muss: Für wie dumm hält die Bundesregierung die Menschen in diesem Land? Da wird allen Ernstes behauptet, um den Weg zu einer sauberen, sicheren und bezahlbaren Energieversorgung schneller gehen zu können, um diese Brücke schneller überqueren zu können, wie die CDU im Bundestag formulierte, würde man mit der Verlängerung der Laufzeit den volkswirtschaftlichen Nutzen, den die Kernenergie habe, abschöpfen.

Wer da was abschöpft, will ich hier gar nicht näher beleuchten. Gregor Gysi hat dazu in der Bundestagsdebatte gesagt, dass dieser Beschluss die Gesellschaft spaltet. Ich zitiere:
… und zwar so offenkundig durch eine Klientelpolitik, wie es das nur selten gegeben hat. Vier Konzerne werden gewinnen, und Millionen und Abermillionen Menschen werden verlieren.

[Beifall bei der Linksfraktion –Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Die Linke hat sich immer für den konsequenten Ausstieg aus der Atomenergie eingesetzt, gegen den nichts, aber auch gar nichts spricht, nicht der angebliche Bedarf an Atomenergie, nicht die angeblichen anderen technischen Hürden, die gerne herangezogen werden. Ich bin froh, dass das Land Berlin mit anderen Bundesländern am 28. Februar 2011 eine Verfassungsklage gegen die Verlängerung der Laufzeiten eingereicht hat.

Niemand kann uns vorwerfen, auch Sie, Herr Henkel, nicht, wir würden diese schreckliche Katastrophe in Japan zum Anlass nehmen. Nein, es ging und es geht darum, den Ausstieg aus dem Ausstieg zu kippen, und es geht auch darum, dass eine solche weitreichende und einschneidende Entscheidung nicht vorbei an den Ländern getroffen werden darf.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Berlin tritt der Bundesratsinitiative zur Rücknahme der Laufzeitverlängerung bei, die gegenwärtig von verschiedenen Bundesländern vorbereitet wird. Das hat der Senat am Dienstag beschlossen. Da hat Rot-Rot eine ganz klare Haltung, nicht nur am Montag vor dem Bundeskanzleramt, auch im Bundesrat und auch hier im Hause. Diese Haltung hatten wir vor der Katastrophe in Japan. Diese Haltung ist auf ganz grauenhafte und erschütternde Weise bestätigt worden. Ich hätte darauf gerne verzichtet.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Das Wort von der Kernenergie als Brückentechnologie, Herr Henkel, hat seit einigen Tagen einen besonders furchtbaren Beigeschmack. Ehrlich gesagt, ich bin erschüttert, zu welch seltsamem Aktionismus die Ereignisse in Japan bei der Bundesregierung führen. Ich muss das ganz Hinundher der letzten Tage hier nicht noch mal darstellen. Wir haben das alle genau verfolgt.

Jetzt gibt es ein dreimonatiges Moratorium zur Aussetzung der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke. Während dieser Zeit soll eine umfassende Sicherheitsüberprüfung aller AKWs durchgeführt werden. Für diese drei Monate werden alle sieben bis 1980 gebauten AKWs vorübergehend stillgelegt. Abgesehen davon, dass das nicht wirklich rechtssicher ist, was da verabredet wird, galt Fukushima auch als sicher, war auch sicherheitsüberprüft. Die Risiken galten als vertretbar. Es wird Zeit, mit der Selbstbelügerei und dem Herumeiern aufzuhören.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Es geht nicht um statistische Rechenmodelle, und es geht hier auch nicht um Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wir sind hier nicht beim Lottospielen. Eines ist völlig klar, und das ist es übrigens seit 30 oder 40 Jahren, solange diese Debatte läuft: Die Risiken der Atomenergie sind nicht kontrollierbar.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Die Bundesregierung hat keine Entscheidung getroffen, ob eines der alten AKWs dauerhaft stillgelegt wird. Sie hat heute morgen einen neuen Titel erfunden, den hat Herr Henkel auch noch mal genannt: der Ausstieg mit Augenmaß. – Das hat ein bisschen was von Verhöhnung der Öffentlichkeit, muss ich ganz deutlich sagen.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Es gibt lediglich Willensbekundungen zur Übertragbarkeit von Reststrommengen, die während des Moratoriums nicht genutzt werden, sagt Frau Merkel. Sie könne heute keine abschließende Aussage zu Laufzeitübertragungen machen. Das kann ja wohl nicht im Ernst die richtige Schlussfolgerung aus den Ereignissen sein. Das Moratorium ist ein Taschenspielertrick, um Druck aus der öffentlichen Debatte zu nehmen – Michael Müller hat es schon angesprochen –, und möglicherweise nur, um über die Landtagswahl zu kommen. Mit diesem Moratorium ist jederzeit eine Rückkehr zum Status quo möglich. Das darf niemand hier im Hause wollen. Es kann doch nur eine mögliche Reaktion geben: Der Ausstieg aus der Atomenergie muss jetzt, unumkehrbar und rechtssicher vollzogen werden.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Wir brauchen die Atomenergiekapazitäten nicht. Das Gerede über Stromengpässe, die Preissteigerungsankündigungen der großen Energiekonzerne sind nichts anderes als Lobby-Propaganda und Erpressungsversuche gegenüber der Politik.

Nachhaltige, dezentrale, ökologische und auf das Gemeinwohl orientierte Energiepolitik setzt nicht auf Risikotechnologien. Das zeigt sich auch hier: Öffentliche Daseinsvorsorge, und da gehört Energie zweifellos dazu, gehört unter öffentliche Kontrolle. Lieber Kollege Henkel, lieber Kollege Meyer! Ich wiederhole es noch einmal: Atomenergie ist nicht kontrollierbar. Verantwortliche Politik zieht Konsequenzen, und die kann nur heißen: Abschalten! – Helfen Sie mit!

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

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